Donnerstag, 6. September 2007
Ein großes und ein kleines Hotel (Hansgeschichten)
Der Himmel hatte die Farbe des Sees, und die Berge hatten die Farbe des Sees, und der Hafen war in ein bleigraues Licht getaucht. Hans hatte am Fenster gestanden und über ein Meer von roten und braunen Dächern zum See geblickt. Die Kirchturmuhr hatte neun Uhr geschlagen. Fenster, die weit offen standen, ließen den Tag hinein und die Nacht hinaus. Nach dem Duschen waren sie hinunter in den Hof gegangen. Der Hof hatte die Farbe des Südens. Über dem Hof war der Himmel blau, und in dem Himmel über dem Hof sahen sie die Mauersegler fliegen.
Nach dem Frühstück gingen sie die Gasse entlang. Ladenbesitzer kamen und sperrten ihre Geschäfte auf. Das war der Morgen.
Am Mittag hatte sich der Nebel verzogen und in der Sonne war es nun schon fast zu heiß. In den schattigen Gassen war es kühl und vom See streifte ein leiser Wind den Berg hinauf und schmeichelte angenehm auf der Haut. Hans ging zum See hinunter. Das große Hotel musste direkt am See stehen. Hans hatte nichts, als ein paar Bilder im Kopf: alte Fotografien zeigten ein imposantes Bauwerk, das wie ein gestrandetes Kreuzfahrt-Schiff auf einem inselartigen Hügel lag. Von da aus machte sich ein Garten breit, der bis zu einer Uferpromenade reichte. Aus der Erinnerung waren jetzt auch die Menschen zu sehen, die die Uferpromenade entlang schritten, die von kleinen und großen Palmen bestanden war. Die Damen trugen lange Kleider und kleine Schirme zum Schutz vor der Sonne. Die Herren trugen steife schwarze Hüte und grüßten die entgegenkommenden Paare, indem sie den Hut lüfteten. Hans schaute nach links und nach rechts. Er war sich nicht sicher, wo er suchen sollte. Er sah aber aus der Entfernung eine Art Hügel, auf dem ein Haus gestanden haben konnte. Er erkannte eine Uferpromenade, die etwas in den See hinaus gebaut worden war und auf der kleine und große Palmen standen. Er hatte sich den Platz viel größer vorgestellt. Aber sogar die alte Tabakfabrik, die nur wenig dahinter am Seeufer zu sehen war, war sicher größer gewesen, als das große Hotel, das jetzt nicht mehr da war.
Am Abend hatten sie die Terrasse ihres kleinen Hotels ganz für sich. Es war jetzt zehn Uhr. Hans hatte die Glockenschläge der Kirchturmuhr gezählt. Der Wirt brachte Cappuccino und Grappa. Leute kamen die Gasse herauf und herunter und plauderten und lachten. Im Ristorante gegenüber sang einer, der zum Singen bestellt worden war, das Lied von Zucchero, dass sie gerade immer im Radio spielten. Die rothaarige Bedienung räumte die Tische ab, die um sie herum standen. Auf den Tischen lagen weiße Tischdecken und auf einem Tisch stand eine Vase mit weißen und orangefarbenen Schwertlilien, die einen schweren Duft verströmten. Die Luft war angenehm abgekühlt und lag wie kühle Seide auf der Haut. Die Küche hatte bereits geschlossen. Die Rothaarige war klein und flink und als sie die Teller, Gläser und Bestecke einsammelte, sang sie eine Melodie dazu. Der Wirt, der den Jazz liebte, drehte die Musik lauter und eine schwarze Stimme sang einen Blues. Jeder, der die Gasse entlang kam, schaute herüber. Später spielte gegenüber im Ristorante eine Trompete ein schnelles Stück. Der Sänger, der den Song von Zucchero nachgesungen hatte, machte eine Pause, denn eine Zeit lang war jetzt das schnelle Trompetenstück zu hören. Dann hatte Viktor, der junge Koch, an einem Tisch im Inneren des kleinen Hotels Platz genommen. Er schrieb einen Text mit zwei Fingern auf einer elektrischen Schreibmaschine. Die Rothaarige, die jetzt hinter dem Schanktisch Gläser spülte, fragte ihn etwas auf Italienisch. Er antwortete, und Hans verstand, dass er nichts geschäftliches, sondern etwas privates schriebe.
„Ting, ting, ting”, scherzte die Rothaarige zum Koch hinüber, der ting-ting-ting auf seiner Schreibmaschine machte. Dann setzte sich die Rothaarige an einen runden Tisch neben eine bella signorita und trank einen Campari, dessen Rot dem Rot ihrer Haare ähnlich sah. Auf den jungen Koch wartete die bella signorita, die ihre Lippen mit einem Lippenstift bearbeitete.
Der junge Koch war fertig mit Tippen und schob einen Stuhl an den runden Tisch. Er hatte Tanzmusik aufgelegt, wie man sie in den Clubs spielte und brachte sich in Stimmung. Die Musik gefiel auch der rothaarigen Bedienung. Sie saßen noch kurz zu dritt an dem runden Tisch. Dann wünschte man sich eine gute Nacht.
„Buona notte” sagte die Rothaarige und machte sich auf den Nachhauseweg.
„Buona notte”, sagten die beiden anderen. „Buona notte, ciao, a domani, ciao.”
Die Rothaarige verließ fröhlich die Runde und sang eine Melodie, als sie die Gasse hinauf ging. Der Koch und seine Freundin machten sich auch auf den Weg in die Nacht. In der anderen Richtung verschwand die Rothaarige singend in der Dunkelheit, und die Dunkelheit hatte die Farbe des Sees.